Offener Brief an die internationale Gemeinschaft

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan droht damit, neue Gebiete in Nord- und Ostsyrien bis zu einer Tiefe von 30 km jenseits der Grenze zu besetzen – unter dem Vorwand, eine „Sicherheitszone“ für die Zwangsunterbringung von Flüchtlingen einzurichten. Dabei werden in erster Linie ethnische und religiöse Minderheiten, die bereits in dieser Region leben, vertrieben. Dies untergräbt die Bemühungen der Partner der internationalen Anti-IS-Koalition, hält die Instabilität in Syrien und der Region aufrecht und erhöht die Gefahr, dass der Terrorismus sowohl regional als auch international zunimmt.

Ethnische Säuberung und demografischer Wandel in Nord- und Ostsyrien:
Die gefährdeten Wohngebiete in Nord- und Ostsyrien, die sich nur 30 Kilometer entfernt von der türkischen Grenze befinden, bestehen aus 15 Städten und Gemeinden, in denen rund 2,5 Millionen Menschen leben. Die demografische Zusammensetzung der Bevölkerung in diesen Gebieten ist durch ethnische und religiöse Vielfalt gekennzeichnet, die von Kurden, Arabern und assyrischen Syrern bis hin zu anderen ethnischen Gruppen wie Yeziden, Tschetschenen, Tscherkessen, Armeniern und Turkmenen reicht. Völker und Minderheiten leben in dieser Region seit Jahrtausenden Seite an Seite.

Lokalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen zufolge haben die Türkei und ihre Söldnertruppen in den Städten Afrin, Serêkaniyê/Ras al-Ain und Tal Abyad ethnische Säuberungen durchgeführt und Hunderttausende der einheimischen Bevölkerung vertrieben. Darüber hinaus wurden weitere Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das Völkerrecht begangen, von denen viele den Tatbestand von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfüllen. Mit einer erneuten Invasion beabsichtigt die Türkei, die einheimische Bevölkerung und die Minderheiten im Norden und Osten Syriens ethnisch zu säubern.

Die Risiken einer möglichen türkischen Invasion auf lokaler, regionaler und internationaler Ebene:
1. Die Durchführung ethnischer Säuberungen gegen die Völker und Minderheiten in Nord- und Ostsyrien wird diese Region zu einem Brennpunkt für einen langfristigen ethnischen Konflikt machen, der Millionen von Flüchtlingen aus dem globalen Süden in den globalen Norden vertreiben wird.

2. Die Umwandlung dieser Gebiete (entlang des 30 km langen Streifens souveränen syrischen Territoriums, der an die Türkei grenzt) in Lager für terroristische dschihadistische Organisationen wie den IS, Hay’at Tahrir al-Sham (der Zweig von al-Qaida in Syrien), Ahrar al-Sharqiya, Hurras al-Din und andere terroristische Organisationen wird die Bemühungen zur Terrorismusbekämpfung auf lokaler, regionaler und globaler Ebene untergraben.
3. Diese Bedrohung birgt das Risiko, dass Zehntausende von IS-Terroristen aus dem Al-Hol-Lager und den Gefangenenlagern in Nord- und Ostsyrien fliehen und sich in Syrien und im Irak – und möglicherweise weltweit – verteilen. Derzeit gibt es schätzungsweise 25 Gefangenenlager, in denen ISIS und andere extrem gefährliche Extremisten festgehalten werden.

4. Dies wird Terroristen auf der ganzen Welt stärken, was die Bemühungen der internationalen Anti-IS-Koalition entgleisen und untergraben wird.

5. Die türkische Invasion zielt darauf ab, die syrischen Gebiete zu spalten und die Einheit des Landes zu fragmentieren. Dies wird die internationalen und globalen Bemühungen um die Aufrechterhaltung der syrischen Souveränität und der Einheit des Landes untergraben.

6. Die türkische Invasion ist ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht und eine Herausforderung für den internationalen Willen, insbesondere gegen die von der türkischen Regierung im Oktober 2019 mit Russland und den Vereinigten Staaten von Amerika unterzeichneten Vereinbarungen zur Deeskalation.

7. Die türkische Invasion wird die menschliche Tragödie in Syrien vertiefen, die Hungersnot verschlimmern und zur Zerstörung weiterer Infrastrukturen in der Region führen, insbesondere angesichts der Verschlechterung der Ernährungssicherheit und des Einsatzes von Wasser als Kriegswaffe durch die Türkei sowie der Auswirkungen des Klimawandels, wie zum Beispiel das Austrocknen von Oberflächen- und Grundwasser, im Einklang mit den Warnungen der einschlägigen internationalen Organisationen und der Vereinten Nationen.

Daher legen wir diesen dringenden Plan vor, der Ihre Unterstützung erfordert:
1. Die Bildung eines spezialisierten internationalen Komitees mit dem Ziel, die Verletzungen und Missbräuche an der syrisch-türkischen Grenze zu verfolgen und seine Berichte dem UN-Sicherheitsrat und den zuständigen Behörden vorzulegen.

2. Zusätzlich zum Einsatz russischer und amerikanischer Streitkräfte als Garanten an der syrisch-türkischen Grenze schlagen wir vor, Friedenstruppen entlang der Kontaktlinien im Norden und Osten Syriens zu stationieren.

3. Verhängung eines Luftembargos über Gebiete in Nord- und Ostsyrien zum Schutz der Zivilbevölkerung im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht.

4. Eine erneute Bestätigung der internationalen Gemeinschaft, dass die militärische Eskalation gestoppt und die internationalen Vereinbarungen (Vereinbarung zwischen den USA, der Türkei und Russland vom Oktober 2019) bezüglich der Kontaktlinien zwischen Nord- und Ostsyrien und der Türkei eingehalten werden müssen.

Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien